Die Sonntagshandlung

Die Beziehung des Kindes zum göttlichen Geist

Ein neugeborenes Kind ist von Natur aus – auch oh­ne jede Konfession – re­li­giös: je­dem Eindruck, jedem Erlebnis, jedem Men­schen gegenüber ist es voll­ständig offen hingegeben. Es ist eins mit der Umgebung.
Erst allmählich grenzt es sich dage­gen ab, es beginnt „Nein“ zu sagen, will alles „selber“ machen u.s.w. Trotz­dem bleibt etwa bis zum Schul­be­ginn noch etwas von dieser hin­ge­bungs­vol­len Of­fenheit erhalten.
Der Gottesdienst, wo das Kind vor den Altar tritt, wo es sich der göttlichen Welt gegenüber stellt, beginnt in der Chris­tengemeinschaft aber erst mit dem Schulalter.
Wie ist diese „Sonntagshandlung für die Kinder“ gestaltet und was ist der Sinn dieser kleinen, schönen, konzen­trierten Feier?

Einen Raum der Stille betreten

Es ist gesund und wichtig, dass Kinder sich viel bewegen können, spielen und toben, Freu­de und Lärm ausleben dürfen. Für ihre see­lisch­­e Gesundheit brauchen sie aber auch Ru­he und Stille.
In der Sonntagshandlung lernen die Kinder, wie innerlich er­füllte Stille entstehen kann. Wenn sie den Kirchenraum betreten, wer­den sie an der Schwelle von einem Mi­nis­tranten im Festgewand emp­fangen. Indem die Kinder dort innehalten, erleben sie nicht nur eine äußere Schwel­le, sondern eine innerliche: Jetzt betrete ich einen geistigen, ei­nen seelischen Raum.
Die Stille ist kein Selbstzweck. Sie ist ein Atemzug nach innen, bevor die Kinder wieder nach draußen gehen und spielen und laufen.

Allein und in Gemeinschaft beten

Durch die christlichen Feste haben die Kin­der bis zum Schulbeginn nicht nur von Gott ge­hört, sondern schon selbst etwas von ihm er­lebt: Im Bild des Weih­nachts­baumes mit den Kerzen haben sie er­lebt, wie in der heiligen Nacht in der Dunkelheit der Na­tur das Him­mels­licht neu zu leuchten beginnt; im Bild der Os­tereier haben sie erlebt, wie zu Os­tern die ganze Natur ge­heimnisvoll erfüllt wird mit der Kraft der Auferstehung, durch die neu­es Leben, neue Ernährung mög­lich wird. Reli­giö­se Er­eig­nisse sind durch die Fest­ge­staltungen zu Er­leb­nissen ge­wor­den, die stär­ker sind als jede abstrakte Er­klär­ung.
Vielleicht haben die Kinder auch erfahren, indem sie vor dem Essen und Schlafengehen gebetet haben, wie die Welt, die Natur und wir selbst von Gott durchpulst und durchlebt sind.
Zu Hause oder allein zu beten ist die eine Seite der Religion. Noch eine größere Kraft kann das Gebet bekommen, wenn es von Zeit zu Zeit mit dem Gebet an­der­er Men­schen ver­eint wird. In der Sonn­tags­­hand­lung be­gin­nen die Kinder zu lernen, wie man sich außerhalb des Familien­zu­sam­men­han­ges gemeinsam mit an­deren Men­­schen Got­t zu­wen­den kann.

Christus – der Gottesgeist, der die Natur durchlebt

Wenn die Kinder in die Sonntagshandlung kom­men, begegnen sie dort in neu­er Art et­was Ver­trau­tem. Sie haben ja bereits eine Be­zie­hung zu Gott: sie haben ihn (mehr oder we­niger un­be­wusst) in der Umwelt, der Na­tur, in den Men­schen, den El­tern wahr­ge­nom­men.
In der Sonntagshandlung finden sie diese Er­fahrung wieder. Sie hören von dem „Got­tes­geist“, der „in Stein, Pflanze und Tier“ ge­nau­so le­ben­dig und wirksam ist wie in allen Men­schen. Aber nun wird er zum Gegenüber: Über dem Altar ist ein Bild zu sehen, das den Aufer­stan­denen zeigt, das menschliche Antlitz des Gottesgeistes, auf das der Priester hin­weist. Indem die Kinder vor dem Altar ste­hen und ge­­mein­sam mit dem Priester beten, er­he­ben sie sich in­ner­lich zu die­sem Got­tesgeist.

Sterben und neu Leben – das kindliche Verhältnis zum Tod

Christus erscheint in der Sonntagshandlung nicht nur als der Gott, der die leben­di­ge Welt er­­füllt, sondern auch als der liebe­vol­le Ver­mitt­ler zwischen Leben und Sterben.
Die Kinder, die bis zur Pubertät noch ei­ne selbstverständliche Verbindung zum Him­­mel haben, haben auch noch ein anderes Verhält­nis zum Ster­ben als die Erwachsenen. Der Tod ist für sie – wenn es ihnen nicht von auß­en anders ent­ge­gen­gebracht wird – noch nichts Bedrohliches, sondern eher ein Über­gang in eine vertraute Welt, in der sie vor der Geburt war­en.
So wird der leidvolle Kreuzestod des Chris­tus, der eigent­lich erst mit der Konfirmation zum Thema wird, in der Sonntagshandlung noch nicht namentlich genannt. Viel­mehr ist Christus derjenige, der alles Le­ben­de in den Tod ge­lei­tet, dass es neu zum Leben finden kann, und der al­les, was nicht lebendig ist, dem Leben zu­führt, so dass es den Zu­gang zur göttlichen Welt finden kann. Tod und Ster­ben werden in der Sonntaghandlung als Teil des Lebens an­gesprochen in ei­ner Form, die Kindern ent­spricht.

Christus – der Lehrer der Menschen-Liebe

Die Lie­be wird den Kindern als die zen­trale Kraft des Christus beschrieben, die in jedem menschlichen Zu­sam­menleben wirk­sam ist, die alles Lernen, Le­ben und Arbeiten erst mög­lich macht. „Pflicht­be­wusst­sein ohne Lie­be macht ver­drieß­lich“, sagt Laotse. Oh­ne Liebe wird das menschliche Dasein „öde und leer“, heißt es in der Sonn­­tags­hand­lung – eine Tat­sache, die jeder er­le­ben kann. Es wird aber auch gezeigt, dass die Liebe der Men­schen zu­ein­ander alle Men­schen­arbeit belebt. Christus selbst ist der „Lehrer der Men­schenliebe“.

„Ich will ihn suchen!“

Die Kinder sind nicht nur Zuhörer und Zu­schau­er der Feier, sondern sie sind ak­tiv ein­­be­zo­gen. Sie beten gemeinsam, und der Pries­ter geht zu den Kindern, wendet sich je­dem in­di­vi­du­ell zu, reicht ihm die Hand und spricht zu ihm, dass der Got­tes­geist mit ihm sein wird, wenn es ihn sucht. Je­des Kind gibt darauf die gleiche Antwort: „Ich will ihn such­en.“
Dieser immer gleiche Zuspruch in immer der­selben Formulierung kann auf den ersten Ein­druck fremd wirken, vielleicht sogar steif. Der Satz: „Ich will ihn suchen“ ist aber keine For­malität. Es ist das einfachste, tiefste christ­liche Bekenntnis – eben nicht: „Ich gehöre da­zu“, oder gar: „Ich bin ein bes­serer Mensch“, sondern: „Ich will mich ent­wickeln, ich will einen Weg gehen, mei­nen eigenen Weg, auf dem Christus mich be­gleitet, auf dem der Got­tes­geist mit mir ist.“
Die Be­zie­hung zu Christus, zum Gottesgeist, ist nicht ein passiver Zustand oder ein vages Gefühl, sondern eine Tätigkeit, ein Weg, eine Suche.

Das Evangelium – die Geschichte vom Wirken des Gottesgeistes

Jeden Sonntag hören die Kinder einen an­der­en Abschnitt aus dem Leben und der Wirk­sam­keit des Chris­tus: Er spricht von der Wirk­lich­keit der göttlichen Welt und lehrt die Men­schen, die Er­de und die Him­melswelt zu ver­ste­hen; Men­schen, die aus der Ge­mein­schaft aus­ge­schlos­sen und ge­ächtet sind, gibt er die Kraft, sich wieder mit ihrem Schick­­sal zu ver­söh­nen; er heilt die Kranken und fügt den ver­sehr­ten Leib wie­der zu ei­ner heilen Einheit. Bei der Auswahl dieser Lesungen wird die Schilderung des Leidenstodes Christi noch ausgespart.
Indem die Kinder das Evangelium, die „En­gels-Botschaft“ hören, bekommen sie eine Be­ziehung zu Gott als einem Wesen, das als Mensch auf die Erde gekommen ist, hier gelebt hat und seither mit ihr verbunden ist.

Die Sonntagshandlung als Vorbereitung auf die Konfirmation

Die Konfirmation, auf die die Kinder mit vier­zehn Jahren zugehen, wäre ohne Übung und Vor­bereitung als rituelles Ereignis eine Über­for­derung. Einen Teil dieser Vorbereitung auf die Konfir­mation kann der Un­ter­richt leis­ten. Die Kinder sollen dort nicht bloß Wis­sen ver­mit­telt bekommen, sondern see­lisch auf das Er­eignis eingestimmt werden. Auch der beste Unterricht kann aber nie die re­li­giöse Tätigkeit, das ge­mein­same Gebet vor dem Altar erset­zen.
In der Sonntagshandlung bekommen die Kinder die beste Vorbereitung auf die Konfir­ma­tion. Sie bekommen ein selbstver­ständ­­liches, unbefangenes Verhältnis zur Stille, zu ei­nem Ritual, zur Begegnung mit dem Priester vor dem Altar.

Text: Claudio Holland